Sich hinaus ins Freie denken

Wie eine Pastorin den Üblichkeiten trotzt und so
kirchenferne Milieus erreicht.

 

Im August 2016 betritt Birgit Mattausch, 40 Jahre alt, Pastorin der evangelischen Kirche Württemberg, ein exklusives Kaufhaus in Stuttgart. Die Pastorin fährt mit der Rolltreppe ins Untergeschoss und geht in der Schuhabteilung zum Regal der italienischen Luxusmarke Gucci. Sie greift zum Straßenschuh mit Fell, einem Slipper mit Zehenkappe und ohne Fersenteil. Schwarzes Kalbsleder, goldfarbene Gucci-Trense, Sohle mit Mähne.

Mattausch, trainiert in Selbstkritik und Gewissensqual, schlüpft in den Schuh und ergibt sich schließlich. Im Lichte bronzefarbener Aluminiumstablampen kauft sie das Modell, „Princetown“, für 795 Euro.

Ein Jahr zuvor, so erzählt Mattausch die Episode, hatte sie den Schuh im Netz entdeckt. Halb Loafer, halb Hausschuh. Halb Straße, halb Wohnzimmer. Als wären Schuhe aus zwei Welten in der Mitte zerbrochen und vertauscht wieder zusammengefügt worden, um fortan weder hier noch dort zu passen. Einige Blogger und Journalisten schrieben, das Modell sehe aus, als kröche ein Langhaarmeerschwein in einen Pantoffel, als trete man auf ein Toupet, ein Eichhörnchen, ein Kuscheltier. Mattausch betrachtete den Straßenpantoffel und fand ihn absurd, ungeeignet und viel zu teuer. Er gefiel ihr sofort.

Im Hochhaus in Nürtingen, wo sie wohnt, 16. Stock, Flohmarkttisch, Großmutters Schrank, Regal Billy, tritt die Pastorin später vor den Spiegel ihres Schlafzimmers, schießt ein Foto von sich mit den Haarschuhen und stellt es ins Netz. „Du hast die Gucci-Slipper mit Fell“, schreibt jemand ins Kommentarfeld. Dahinter Smileys mit Herzaugen. „Du bist die eine von dreien, die das zu erkennen weiß“, antwortet Mattausch und hofft, dass es nur drei sind.

Mit den anderen sitzt sie an den Küchentischen des Plattenbaus, rührt Marmelade in den Tee, isst Maultaschen, Börek, Wareniki und hört von Krankheit, Armut, Angst. Mattausch ist den Beladenen nah. Im Aufzug des Hochhauses riecht sie den Schweiß der Drittjobs, die Säure der Sorgenmägen, die schreienden Parfums der Unerhörten, so wird sie ihre Zeit dort später beschreiben. In einer Predigt sagt sie: „Alles ist irgendwie beschädigt und zerbrochen.“ Und meint auch sich selbst.

Auf den ersten Blick spricht einiges gegen Gucci im Leben der Protestantin Mattausch.

Sie selbst sagt, sie sei aus Versehen Pastorin geworden. In ihrer Familie spielte die Religion keine große Rolle, aber Kinderstunde und Jungschar einer Gemeinde boten Spiel, Gemeinschaft, Zugehörigkeit. Das Mädchen Mattausch hörte von Sünde, Schuld und Sühne. Sie spielte Brennball und fürchtete sich vor der Hölle, ging auf Schnitzeljagd und meinte, böse zu sein. Sie hatte es so verstanden. Mattausch, die von sich sagt, sie sei religiös wie andere musikalisch, strengte sich an für einen richtenden Gott und war nie gut genug.

Mattausch trägt Größe 41. Der Schuh war als Damenschuh in ihrer Größe nicht vorrätig, also hat sie den für Männer genommen. Menschen schauen auf die Schuhe und sagen: „Was sind das denn für Schuhe?“ Niemand gerät ins Schwärmen. „Ich bin auch nicht normschön“, sagt Mattausch und lacht. „Ausgerechnet ein Oberpietist, ein wichtiger Funktionär bei den Frommen, antwortete auf mein Foto im Netz, dass er die Schuhe mag. Er ist heute einer meiner wichtigsten Freunde.“

Der Schuh ist im Sommer zu warm wegen des Fells, im Winter zu kalt wegen der freien Ferse. Es ist ein Schuh für den Übergang. „Ich bin auch immer ,zu‘ irgendwas“, sagt Mattausch. Als sie 2010 nach Nürtingen gezogen war, war sie zu offen, zu verspielt, zu ledig, sagt sie heute. Sie bezog zunächst das Pfarrhaus, einen Bungalow mit sechs Zimmern, zwei Bädern, vier Toiletten und vier Kellerräumen. Einige Umzugskartons packte sie gar nicht erst aus. Es war, als würde sie nicht passen, die Pastorin ohne Mann und Kinder, aber mit einem Haufen Kleider, Fragen und Sinn für die Sehnsuchtsvollen.

Ihr Vater, ein kunstinteressierter, intellektueller Mensch, verachtete Äußerlichkeiten und Prasserei. Mattausch, erstgeborene zweier Töchter, fühlte sich ihm eng verbunden. Ihr erstes Wort lautete „Papa“. Als Kind lehnte sie die teuren Schuhe ihrer Klassenkameraden ab. Als alle Sneaker einer bestimmten Marke wollten, trug sie namenlose Varianten.

Mit den Großeltern aber kaufte sie unvernünftige Schuhe. Stiefeletten, in die sie kaum hineinpasste, und Turnschuhe aus rosafarbener Baumwolle. Sie lief mit den Stoffschuhen zum Bäcker, um Brötchen für das Familienfrühstück zu kaufen. Damals war sie sechs Jahre alt, und der Tag war ein Gummistiefeltag. Sie erinnert sich, dass sie an sich herabschaute und froh war über die leuchtende Leichtigkeit an ihren Füßen. Ein harmloses, kleines Glücksgefühl. Sieht sie heute Frauen mit pinkfarbenen Fingernägeln, geschichtet und gehärtet, mit Strass besetzt, denkt sie nicht überheblich, sondern an Rosa bei Regen.

Mattausch studierte Germanistik mit Theologie im Nebenfach, als ihr Vater unheilbar erkrankte. In ihrem Kinderglauben fand sie keinen Trost. Mattausch stürzte sich in die Wissenschaft, um ihr Entsetzen zu lindern. In den Vorlesungen des Theologen Eberhard Jüngel hörte sie von einem Gott der Liebe und von einem Glauben, der auch im Denken gründet. Mattausch reflektierte, resümierte und dachte sich hinaus ins Freie.

Sie wählte Theologie als Hauptfach und meldete sich zu kirchlichen Prüfungen an. Es gab ein Gespräch mit dem Kirchenrat. Kaffee und zwei Kekse. „Der Kirchenrat aß beide Kekse, und ich fragte mich, ob ich überhaupt würdig bin, Pastorin zu werden“, sagt sie.

Der Vater starb innerhalb eines halben Jahres. Mattausch trug das Schwarz der Trauer lange vor dem des Talars. Später übernahm sie eine Gemeinde und kleidete sich außerhalb der Gottesdienste bunt. Blumen und Batik, Tiger und Glitzer, Gold und Zebra. Vom Flohmarkt, von Großmutter, vom Großfilialisten. Gebraucht, geerbt, preiswert.

Im Sommer trug sie einmal ein weißes Trägerkleid mit Netzjacke. Auf Facebook, so berichtet sie, habe sie unter das Selfie geschrieben: „Ins Büro wie an den Strand gehen.“ Eine Kollegin habe geantwortet: „Was würde die Gemeinde wohl sagen, wenn man so durch den Stadtteil gehen würde?“ Mattausch ging genau so durch den Stadtteil. Eine Frau aus einem der Hochhäuser schrieb: „Wir freuen uns immer, wie unsere Pastorin aussieht. Wir sind immer gespannt, was sie als nächstes anzieht.“

Konservative Gläubige vermittelten ihr den Eindruck, sie wünschten sich ihre Pastorin zurückhaltender. Mattausch aber fand in sich keinerlei Dezenz und pflegte ihre Auffälligkeiten.

Auch in ihren Predigten gab sie sich preis. Sie sprach über ihr Scheitern und Ungenügen. Und von dem Wunsch, trotzdem geachtet und geliebt zu werden. Sie wählte einfache Worte und starke Bilder, verdichtete Gedanken zu Texten, die die Aufmerksamkeitsspanne ungeübter Menschen nicht sprengten, und auch die Geübten mit ihrer Poesie packten. Nach den Gottesdiensten stellte sie die Predigten auf ihren Blog.

Gläubige, denen Anschaulichkeit und Glut der Pastorin missfielen, verließen die Gemeinde und suchten sich eine neue. Andere traten ein. Eine Mutter, so erzählt sie, wollte ihr Kind taufen lassen, aber der Vater protestierte. Eines Abends sah er Mattausch vor der Kirche sitzen und Bier aus der Flasche trinken. Da änderte er seine Meinung. Mattausch sagt: „Es ist manchmal erschütternd, wie sehr die Leute sich wünschen, einen Menschen mit Schwächen zu sehen.“

2014 wurde das Pfarrhaus verkauft. Mattausch zog in den 16. Stock des Plattenbaus. Ihre Freundinnen aus Studienzeiten kauften Häuser, heirateten, gebaren Kinder, krochen in die Wärme dieses Zustands, und Mattausch, die Liebe, Mut und Ehe feiert, sich aber selbst noch nicht traute, dachte: „Dann kann auch ich etwas Verrücktes tun.“

Es dauerte eine Weile, bis sie zum ersten Mal überlegte, die Schuhe mit Fell zu kaufen. „Im Vergleich zum Einfamilienhaus sind die Gucci-Puschen noch günstig.“ Kein Haus, aber ein Hausschuh für unterwegs. Geborgenheit in Freiheit.

Sie lernte das Predigen bei dem Schriftsteller Heinz Kattner. „Er sagte, ich sei eine Flaneurin, ich hätte keinerlei Disziplin. Es ist schön, so liebevoll gesehen zu werden.“ Mit ihren Predigten zieht Mattausch sich selbst in Mitleidenschaft. Sie atmet schwer, und ihre Stimme bricht, wenn sie von dem jungen Mann erzählt, der sich mit all seiner Last vom Dach des Hochhauses stürzte. Nach dem Trauergottesdienst kam eine Nachbarin zu ihr, nahm sie in den Arm und sagte: „Herzliches Beileid.“ Mattausch, die die Geschichte später auf ihrem Blog teilte, hatte den Mann nie kennengelernt. Sie wusste nicht einmal, ob er zur Gemeinde gehörte.

Die Hausmeisterin des Hochhauses sagte zu Mattausch: „Sie sind auch unsere Matuschka.“ In der orthodoxen Kirche Osteuropas wird die Frau des Priesters „Matuschka“ genannt. Mattausch sagt: „Die Matuschka gilt als das mütterliche Herz der Gemeinde.“ Mattausch ist den Menschen nah, aber auch hier gehört sie nicht dazu. „Bungalow oder Hochhaus, ich bin immer die andere.“

Manchmal, wenn zudem das Dach des Gemeindezentrums repariert, die Finanzierung gesichert werden muss, fehlt Mattausch die Kraft, dem Leid der Leute zu begegnen. Dann würde sie im Aufzug am liebsten die Augen schließen und beten. Bis in den 16. Stock schafft sie zwei Vaterunser.

In einer Predigt sagt sie, „dass es im Leben nicht um Bravsein geht, um Erfolg und Gefallen, sondern nur um Atmen, Zaubern und Lieben und darum, dass einem dann und wann einer durchs Haar streicht und summt“. Mattausch schreibt ihre Predigten am liebsten im Bett. Sie kokettiert mit angeblichem Müßiggang und bricht mit dem Gesetz protestantischer Betriebsamkeit. Sie betont oft, wie ungern sie sich bewege.

Bett, Bier, Blumenmuster. An mindestens drei Tagen im Monat, so behauptet sie, bleibe sie im Bett. Dann öffne sie auch niemandem die Tür. „Das Parat-Sein-Müssen ist ganz gegen meine Natur.“ An der Wand neben ihrem Bett Zettel mit Sätzen und Ideen. Eine Pinnwand des Dauerdenkens.

Im Oktober 2015 steht sie nicht mehr auf, traut sich nicht mehr, vor die Tür zu treten. Sie zieht für drei Monate in eine Klinik ins Allgäu, arbeitet mit Ärzten und Psychologen an ihrer Erschöpfungsdepression und schreibt darüber auf Facebook und später in ihren Predigten. Die anderen Patienten gehen nach den Therapiestunden in den Wald, Mattausch setzt sich ins Auto und fährt ins nächstgelegene Einkaufszentrum. „Ich identifiziere mich sehr mit meiner Arbeit und führe irgendwie ein frommes Leben. Nur beim Sex und beim Shoppen denke ich nicht über die Kirche nach. Sex, Shoppen, vielleicht noch Netflix-Serien; obwohl, da kann man nebenbei noch grübeln.“

Nach der Genesung lässt sie sich einen Vogel und Futterkörner auf die Innenseite ihres linken Unterarms stechen. Das Tattoo zur Bibelstelle Matthäus 6, 26. „Seht euch die Vögel des Himmels an: Sie säen nicht, sie ernten nicht und sammeln keine Vorräte in Scheunen; euer himmlischer Vater ernährt sie.“

Haus und Himmel. Geborgen und frei. Jetzt und für immer. Und dazwischen Mattausch. Ihrer Vorgesetzten in Stuttgart sagt sie: „Ich wünschte mir eine Arbeit, die zu meinen Begabungen und Begrenzungen passt.“ Die Vorgesetzte kann ihr diese Arbeit nicht geben.

Nach dem Gespräch geht Mattausch in eine katholische Kirche und weint. Mattausch, die gläubig-zweifelnde, menschennah-geistliche und die Spannkraft der Gegensätze nutzende Pastorin, ahnt, dass ihre Zukunft jenseits starrer Gegebenheiten liegt.

Im Juli 2016 bietet ihr die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers eine halbe Stelle in Niedersachsen an, befristet auf drei Jahre, verlängerbar auf fünf. Mattausch, halb geborgen, soll am Gottesdienstzentrum in Hildesheim Seminare leiten über Poesie und Gottesdienst. Außerdem fragt Kattner, ob sie einen seiner Predigtkurse übernehmen könne. Mattausch, halb frei, überlegt, sich zudem für den Masterstudiengang Literarisches Schreiben und Lektorieren am Literaturinstitut Hildesheim zu bewerben. Bald darauf kauft sie den Gucci-Schuh, den Schuh für den Übergang.

Als sie fürchtet, mit der lehrenden Aufgabe in Hildesheim ihr Ziel zu verlieren, sei es ihr guter Freund der Oberpietist gewesen, der zu ihr gesagt habe: „Du willst die Kirche retten, und du willst, dass das Zerbrochene geehrt wird. Jede Faser deines Herzens schreit nur danach, dass das Zerbrochene geehrt wird.“

Mattausch sagt: „Ich bin nicht missionarisch. Ich bin eine Patchworkexistenz, ein Mosaik kleiner, innerer Geschichten. Einen Teil davon trage ich nach außen. Ich würde meinen Glauben gern präzisieren können. Aber vielleicht ist es wie bei allen Dingen, die uns unmittelbar angehen. Man kann nur herumtastend davon sprechen.“

Im Dezember 2016 feiert Mattausch ihren Abschied in Nürtingen. Sie ist von der evangelischen Kirche Württemberg beurlaubt, für drei Jahre, verlängerbar auf fünf. Der Kalinka-Chor schenkt eine Flasche Wodka. Der Dekan hält eine Laudatio im Gottesdienst. Die Schuhe spielen eine herausragende Rolle.

Der Gemeindebrief Dezember/Januar ruft ihr ein wehmütiges Adieu nach: „Es gab ja schon ein paar Menschen“, heißt es darin, „die waren ziemlich irritiert von Dir, als Du vor sechs Jahren zu uns gekommen bist: so lustig und hübsch, so phantasievoll gekleidet, so ohne Ehemann und Kinder. Und dann die Predigten: so kurz, kaum zehn Minuten lang, so ohne belehrenden Ton und so ohne erstens, zweitens, drittens! (. . .) Brotbacken im Gottesdienst! Atheisten am Predigtpult! Papierfliegerbasteln an Pfingsten! Also nein! Manche von den Irritierten sind weg, viele sind dageblieben – und sehr viele sind dazugekommen. Haben Gottesdienste mit Dir gefeiert, die (. . .) einen getröstet, angerührt, begeistert, erwärmt nach Hause gehen ließen.“

Wenn Mattausch heute das Heimweh quält, denkt sie zurück an ihren Nürtinger Stadtteil. An die Frau aus der Türkei beispielsweise, mit der sie für deren Mutter an der syrischen Grenze betete, jede der Frauen zu ihrem jeweiligen Gott. Die Texte, die sie am Literaturinstitut schreibt, handeln von den Menschen im Hochhaus.

Mattausch ist selten in ihrer Wohnung, oder sie macht die Tür nicht auf, wenn der Paketbote klingelt. Zum Glück nimmt die Frau in der Änderungsschneiderei die Pakete an. Als Mattausch einmal ein Paket abholen will, so erinnert sie sich, starrt die Schneiderin auf ihre Füße mit den haarigen Schuhen, die aussehen wie Hausschuhe, und fragt: „Sind Sie in Schlappen gekommen? Wo wohnen Sie denn?“ „Ganz nah“, sagt Mattausch. „Dann darf ich die tragen?“

„Ja, klar dürfen Sie“, sagt die Änderungsschneiderin. „Sie dürfen alles.“