Wir hatten ja auch Glück

Als ihr Sohn in den Bergen stirbt, macht sich die Hebamme Petra Flachsenberg auf den Weg, ihn zu holen. Dann geht sie immer weiter.
Die Geschichte einer Entbindung.

 

Am Morgen des 18. Januars 2011 setzt sich die Hebamme Petra Flachsenberg ins Auto, um ihren Sohn zu holen. Der Mercedes, mittelblau metallic, Baujahr 1978, ist ein Bestattungswagen.

Am großen Lenkrad aus Holz sitzt Dieter Birkenkamp. Flachsenberg und Birkenkamp, seit fünfzehn Jahren ein Paar. Die Hebamme und der Bestatter. Die eine holt sie in die Welt, der andere bringt sie unter die Erde. Ein Scherz unter Freunden. Früher.

Der Himmel an jenem Dienstag ist grau, das Autoradio ausgeschaltet, die Stimmung ruhig.

Flachsenberg, die heute sagt, sie habe kaum Erinnerungen an ihren Sohn, und meint, sie habe nicht genug davon, weil es nie genug sein kann, wenn das Kind stirbt, erzählt von Leben und Tod. Auf dem Tisch Apfel-Walnuss-Kuchen, im Kühlschrank Rote-Bete-Linsen-Salat mit Schafskäse. Die Hebamme weiß zu empfangen.

Ihr Sohn, Jan Philipp Flachsenberg, geboren am 12. Februar 1981, stirbt am frühen Nachmittag des 14. Januars 2011 am Knödelkopf, einem Berg in Vorarlberg, Österreich. Eine Lawine bricht ihm das Genick.

Die Nachricht verbreitet sich schnell in Wülfrath. Menschen kommen ins Fachwerkhaus von 1786, früher ein Pastorat, der Hausname: Goldener Engel. Flachsenberg und Birkenkamp kochen Minestrone. Immer wieder klingelt das Telefon. Schreie des Schmerzes. Flachsenberg tröstet.

„Es waren auch schöne Tage“, sagt Petra Flachsenberg. Ein Satz wie ein Reflex.

Im Bestattungswagen Stille. Die Autositze sind weich. Das Tempo gemächlich, 120 Kilometer in der Stunde, schneller fährt der Wagen nicht. Flachsenberg erzählt Birkenkamp aus Philipps Kindheit.

Flachsenberg hatte sich an der Kunstakademie in Karlsruhe für Malerei beworben, bevor sie merkte, dass sie schwanger war. Sie lehnte den Studienplatz ab, brachte Philipp auf die Welt, trennte sich von seinem Vater und wurde Hebamme. Sie schenkte Philipp seine Schwester Julia und den Kindern eine angstarme Mutter.

Flachsenberg, die den Frauen hilft, ihren Kindern den Weg weit zu machen, engte Philipp und Julia nicht ein. Sie achtete ihr Wesen, stärkte ihre Kräfte und wählte Umsicht und Vertrauen als Sicherheitskonzept.

Philipp fand Liebe und Freundschaft, ging zweimal den Jakobsweg, studierte Kommunikationsdesign mit großer Freude und trug immer ein Tuch bei sich, auf das er sich im Sommer legte, wenn die Sonne die Wolken vertrieb. An seinem letzten Weihnachtsfest schenkte er seiner Mutter eine CD von Emilíana Torrini. Ein Lied darauf heißt „Sunny Road“. Eine Zeile lautet: „My middle name’s still ,Risk‘.“

Die Fahrt verläuft reibungslos. Keine Staus. Flachsenberg freut sich auf ihren Sohn. Sie ist froh, noch einmal etwas für ihn tun zu können. Zum Muttertag schenkte Philipp ihr einmal ein Foto, das er von ihren Händen gemacht hatte. „Danke für alles, was diese Hände für mich getan haben“, schrieb er dazu. Karten, Briefe und Nachrichten an seine Mutter unterschrieb er mit: „Danke für Dich.“

Birkenkamp lernte Philipp kennen, als der Junge dreizehn Jahre alt war. Philipp und Birkenkamp, die Genießer. Als Student schrieb Philipp sich die Namen der Käsesorten auf, die Birkenkamp nach der Hauptspeise reichte. Er reihte die Käsenamen aneinander, notierte sie ohne Leerstellen auf der Notizseite seines Telefons. Ende und Anfang verschmolzen. Schließlich stand er ratlos mit Käselust und Sortenschlange vor der Kühlvitrine im Supermarkt. Die Verkäuferinnen halfen zu entschlüsseln.

Vor Philipps Reise in den Schnee aßen Flachsenberg, Birkenkamp und Philipp zusammen Rotbarsch. Petra Flachsenbergs Mutter war eingeladen, aber sie fühlte sich nicht wohl und sagte ab. Philipp hatte zufällig Zeit an dem Tag und kam an ihrer Stelle. Flachsenberg hatte ihrem Sohn einen Schal gestrickt. Philipp legte ihn um. Sie verabschiedeten sich lachend voneinander. Es war das letzte Mal, dass Petra Flachsenberg ihren Sohn lebend sah. „Wir hatten auch Glück“, sagt sie.

Philipp als achtjähriger Junge zu seiner Großmutter: „Ob ich mein Leben auch wirklich ganz leben kann?“

Flachsenberg und Birkenkamp fahren auf der rechten Spur. Am frühen Nachmittag auf der Autobahn in Österreich überholt ein Wagen. Ein Mann hält eine Kelle aus dem Fenster. Bitte folgen.

Birkenkamp und Flachsenberg fühlen sich nicht angesprochen. Nicht bei dem Tempo, nicht in diesem Moment. Als schütze sie die Trauer vor den Unbilden der Routine. Die Zivilpolizisten fahren in eine Parkbucht. Flachsenberg und Birkenkamp fahren weiter.

Plötzlich überholen die Männer wieder, schneiden den Bestattungswagen und zwingen ihn, auf der Standspur zu halten. Zwei Männer steigen aus dem Wagen. Sie sagen: „Führerschein. Fahrzeugpapiere.“ Flachsenberg will den Männern in die Augen sehen, aber die schauen über die Autobahn. Birkenkamp zeigt die Papiere. Die Polizisten sagen, in Bestattungswagen würden neuerdings Drogen geschmuggelt. Dann fahren sie weiter.

Auch Flachsenberg und Birkenkamp fahren weiter. Eine Stunde lang schweigen sie, überfordert von den Ausschlägen dieser Tage. Dann lachen sie laut und verlassen die Stille wie zuvor die Autobahn, als hätte der Irrwitz sie geschnitten und auf die Standspur des Leids gezwungen. „Bevor wir zurückfahren, müssen wir die Sachen durchschauen. Nicht dass Philipp ein Stück Cannabis in seinem Gepäck hat und wir zu Drogenkurieren werden.“ Lachen und Weinen, Alltag und Abgrund. Birkenkamp, der Bestatter, ist auch Schreiner und Inneneinrichter, alte Tradition aus einer Zeit, als der Tod noch nicht an den unzumutbaren Rand des Denkens gedrängt wurde.

Am Abend kommen Flachsenberg und Birkenkamp in Bludenz an. Sie fahren sofort zum dortigen Bestatter, von da in die Prosektur. Petra Flachsenberg sieht zum ersten Mal ihren toten Sohn. Er trägt ein graues Sweatshirt, Jeans und seine Baseballkappe.

Philipps Wirtin hatte die Sachen aus seinem Gepäck genommen. Sie sagt, sie habe nicht gewusst, ob die Kappe unter den Sargdeckel passen würde. Eine verblüffende Mitteilung im Moment des Beileids, eine Botschaft der Unsicherheit. „Schlecht ist nur Schweigen“, sagt Flachsenberg, die den Menschen die Scheu vor falschen Worten nehmen will. Das Schweigen der Leute würde auch sie verschütten. Das Tabu Tod begräbt die Trauernden.

Als Flachsenberg vier Jahre nach dem Unfall beim Friseur eine Frau trifft, die sie lange nicht gesehen hat, erzählt sie mit Volumenwicklern im Haar vom Tod ihres Sohnes. „Hätte ich ein Kind geboren, würde ich es auch erzählen“, sagt sie.

Mittlerweile ist es dunkel. Birkenkamp und Flachsenberg fahren nach Klösterle zu dem Sporthotel, in dem Philipp gewohnt und als Aushilfe gearbeitet hat. Sterne am Himmel. Klare Nacht. Im Hotel herrscht Trubel. Birkenkamp geht schon vor. Flachsenberg bleibt draußen auf dem Parkplatz. Im Wagen der Sohn. Sie lehnt sich an und telefoniert mit der Freundin, mit der sie sich vor ein paar Jahren ein Atelier geteilt hat. Die Freundin sagt: „Philipp hatte ein gutes Leben. Für ihn ist es gut. Für dich wird es schwer.“

Im Notizbuch Philipp Flachsenbergs die Wendung „Einmalerwachsenundzurück“.

Am nächsten Tag, während der Fahrt zurück nach Wülfrath, ruft Flachsenbergs Mutter an. Flachsenberg sagt: „Wir haben den Philipp wieder.“ Ihre Mutter versteht nicht. Für Petra Flachsenberg ist jedes Tun ein Aufschub, aber auch eine Vorbereitung, ein Signal an Kopf und Körper, dass die nächste große Entbindung bevorsteht. Wenn ein Kind im Leib wächst, ändern sich die Umstände. Wenn es stirbt, ändern sie sich auch.

Im Verlauf dieser nächsten Lösung ist die Reise nach Bludenz eine erste Wehe. Die nächsten folgen mit Macht.

Wenige Tage vor der Beerdigung sitzt die Familie mit Philipps bestem Freund im Wohnzimmer in Wülfrath. Philipps Schwester Julia erzählt, dass sie als Kind einmal eine Marienkäferstadt in einem Karton errichtet habe. Es gab einen Marienkäferkindergarten und ein Marienkäferaltersheim. Als Kinder dachten Philipp und sie, die Marienkäfer mit vielen Punkten seien alt und die mit wenigen seien jung. Philipp nahm einen Filzstift, malte auf Flügel mit wenigen Punkten viele und entwertete das Alter als verlässliche Größe.

Irgendwann gehen Jule und ihre Mutter in die Küche, um das Abendessen zu richten. Der Raum ist dunkel. Nur über dem Herd werfen die Leuchten der Dunstabzugshaube Lichtkegel an die Wand. Dort angestrahlt, im Januar, sitzt ein Marienkäfer. Wenige Wochen später sieht Flachsenberg beim Fegen draußen vor der Tür in einer Nische, dort wo der Wind die Blätter der Straße sammelt, einen toten Marienkäfer. „Ein Abschied“, sagt Flachsenberg.

Sie öffnet sich der Trauer zunächst marienkäferweit.

Zwei Wochen nach dem Unfall geht Flachsenberg wieder zur Arbeit. Sie erzählt ihren Kolleginnen von Philipps Tod und nimmt sie danach in den Arm.

Nach Monaten, als niemand mehr von Philipp spricht, weil die Menschen meinen, das Leben müsse weitergehen, weil sie nicht wissen, dass es das Leben der Petra Flachsenberg nicht mehr gibt, schweigt auch sie. Manchmal in geselligen Runden, wenn alle von ihren Kindern reden, bleibt Flachsenberg still, um niemanden zu betrüben. In diesen Momenten fühlt sie sich, als hätte sie Philipp nie geboren.

Sie erzählt gern von ihren Kindern. Im Juni 2011 telefoniert sie mit einer Psychologin. Sie sagt: „Ich bin nicht in heller Not, aber es könnte sein, dass ich Ihre Hilfe brauchen werde.“ Sie will nicht stecken bleiben im engen Kanal ihrer Stärke. Sie sorgt für sich, entlastet die anderen.

Ende August reist Flachsenberg nach Österreich und malt an der Sommerakademie in Traunkirchen. Auf einem steilen, matschigen Weg begegnet ihr eine alte Frau, ganz in Schwarz gekleidet, mit lodernd orangefarbenem Haar. Flachsenberg malt die alte Frau auf einer alten Matratze. Der Assistent der Sommerakademie ist in Philipps Alter. Auch ihn bittet sie, sich auf die alte Matratze zu legen. Sie malt ihn von der Seite. Schwarze Jacke, türkisfarbenes Hemd, halbgeöffnete Augen. Jemand sagt, der junge Mann auf dem Bild sehe tot aus. Flachsenberg nimmt den Pinsel, mischt Farben und erweckt ihn wieder zum Leben.

Flachsenberg wartet nicht auf die Spitzen des Schmerzes, sie steigt ihnen entgegen. Es ist, als wolle sie dem Schmerz begegnen, sich von ihm nicht überfallen lassen.

Sie ist schnell, immer schnell. Heute auf dem Weg zum Friedhof rennt sie und sieht doch den Schmetterling über Blüten oder die Blonde im Bikini am Balkon. Philipp sagte einmal: „Muss jeder Spaziergang mit dir gleich zum Sport ausarten?“

Im Mai 2012 fährt sie ins Tessin, um den Grabstein für Philipp zu hauen. Weißer Marmor. Während des Hauens hat sie Schmerzen in den Armen, vor allem aber im Leib. Die Krämpfe kommen wellenartig, wie bei einer Geburt. Schlaflose Nächte. Das Ziehen gipfelt.

Der Grabstein. Die Tatsache. Als Stein gehauen. Philipp Flachsenberg ist tot. Petra Flachsenberg lässt ihren Sohn los und entbindet sich selbst hinein in ein neues Leben voller Leere, Sehnsucht, Weh.

In Philipps Wohnung an der Wand mit schwarzem Klebeband in großen schwarzen Buchstaben das Wort „Neustart“, darunter handschriftlich mit schwarzem Filzstift auf orangefarbenem Klebeband: „könntedasproblembeheben“.

Petra Flachsenberg, die die Begabung hat, an den Bürden des Lebens zu wachsen, weigert sich, in dem Tod ihres Sohnes einen Sinn zu sehen, aber sie sucht nach dem Anfang, der ohne Leerzeichen diesem Ende folgt.

Im Juni 2012 besucht sie die Documenta 13 in Kassel. Im Raum der Künstlerin Ida Applebroog drängeln sich Besucher, wühlen in Kisten nach Gratispostern. An den Wänden Skizzen, Satzfragmente, Gedankenschnipsel. Flachsenberg kommt in den Raum und sieht an der Wand nur den einen Satz: „Sometimes a person never comes back.“

Der Satz begleitet sie über Jahre. In ihrem Atelier unter dem Dach in Wülfrath ringt sie mit ihm. Sie will das Fehlen malen, die Abwesenheit, den Mangel. Vielleicht ist das die Aufgabe, die sich ihr stellt. Die Hebamme, Wehmutter, Geburtsfrau will den Tod packen, ihn von sich weg und auf die Leinwand zerren. Sie scheitert.

Petra Flachsenberg hat das Scheitern nie geübt. Viel fällt ihr leicht. Sie war eine gute Schülerin, sportlich. Sie übte Ballett beim Pina-Bausch-Tänzer Jan Minarik. Wenn er statt klassischer Ballettworte sagte: „Lasst die Sonne auf eure Brust strahlen!“, wusste sie, wie sie sich zu bewegen hatte. Sie mag die Anerkennung, wenn sie viel erledigt hat. Schon als Kind lag sie am Abend im Bett mit einer Liste im Kopf, die sie tagsüber abgearbeitet hatte. Neben ihrer Arbeit als Hebamme studierte sie als Gast Aktzeichnen an der Universität und verkaufte ihre Bilder später in Birkenkamps Einrichtungshaus.

Den Tod aber kriegt sie nicht zu fassen. Der Schmerz bleibt. Er erweitert die Reihe ihrer Farben um ein Pigment, das sich fortan in ihr Leben mischen wird. Sie will ihre Schritte dahin lenken, wo sie mit dieser Palette arbeiten kann.

Flachsenberg sagt: „Wir alle verlieren ständig etwas. Eine Liebe, die Jugend, die Gesundheit, Arbeit, ein Zuhause, die Illusion, das Glück kontrollieren zu können. Wir wollen uns und unsere Familien beschützen und müssen sehen, dass es nicht in unserer Macht steht.“ Sie sagt auch: „Ich war auch früher ab und zu bedrückt. Ich kann jetzt nicht jede Traurigkeit mit Philipps Tod begründen.“

Im Herbst 2015 malt sie mit Flüchtlingskindern in der Grundschule. Sie richtet den Blick auf die Not anderer und schärft gleichzeitig den auf sich selbst.

Am 27. Januar 2016 steigt sie zum ersten Mal seit Monaten wieder die schmale Stiege hinauf in ihr Atelier und malt. Neben der Staffelei ein Spiegel. Auf der Leinwand Petra Flachsenberg, 56 Jahre alt, Sommerhaar, gesunder Teint, volle Lippen. Die Farben Umbra natur, Böhmische grüne Erde, Siena gebrannt, Van-Dyck-Braun, Caput mortuum und ein Hauch Harm.

An der Wand in Flachsenbergs Wohnzimmer ein Foto aus Philipps Diplomarbeit. Ein Mensch auf der schattigen Seite eines Hügels. Sein Weg führt durch frostige Wiesen. Nur noch wenige Meter, und er erreicht den höchsten Punkt. Dahinter die Sonne.

Von April an lernt die Hebamme Petra Flachsenberg, Sterbende im Hospiz zu begleiten. In dem Hospiz gibt es die Möglichkeit, mit den Menschen zu malen.

Auf der Innenseite von Tochter Julias Oberarm ein Tattoo. Philipps Geburtstag. Sein Todestag. Und die Worte: Danke für Dich.