Push-Up für die Seele
Unterwäsche selbst nähen? Muss man erst mal drauf kommen. Aber bei einem Dessous-Nähkurs geht es nicht nur um BH-Körbchen. Viel wichtiger ist das Innenleben
Sie war für die anderen da, sich selbst kam sie abhanden. Als Angelika Haack nur noch durch sich hindurchschaute wie durch ein leeres Glas, wog sie 120 Kilo. Die Fotos ihrer Verwandlung liegen neben Schneiderkreide und Stecknadeln im Nähkorb. Seitdem sie wieder Größe 42 trägt, näht sie Dessous. Sie genießt sie wie eine Belohnung.
Mitten im Industriegebiet von Würselen bei Aachen, neben Matratzenparadies und Baumarkt, im Hinterzimmer des Stoffladens, streichen sechs Frauen über Spitze, Tüll und Rüschen. Sie heben die Hauben ihrer Nähmaschinen. Die Schnittmuster der Büstenhalter heißen wie Schönheiten aus schwülstigen Liebesromanen: Julie, Amelie oder Rebecca. An der Decke des Raumes hängen Neonröhren, die Oberlichter sind vergittert, die Wände weiß getüncht.
Die Kursleiterin heißt Phelomena, was im Geratter der Jerseynadeln so klingt wie phänomenal. Sie zieht ihr T-Shirt hoch und zeigt den BH, den sie sich gerade genäht hat. Phelomena Visang ist 58 Jahre alt. Innerhalb eines Jahres sind zwei ihrer besten Freundinnen gestorben. Das Leben weitet die Duldsamkeit des Menschen wie die Taille das Wäschegummi. Sie zieht ihr T-Shirt wieder herunter und reibt sich die Hände. Sie will Angelika Haacks nackte Haut nicht mit kühlen Händen berühren. Phelomena Visang greift ihr unter die Arme, zieht das Maßband um den nackten Rücken und misst ihre Oberweite. „Wie geht es deinem Enkel, Angelika?“, fragt Phelomena. Die Frauen duzen sich. Nachnamen und so viel bloße Haut – das passt nicht zusammen.
Vor einem Jahr fühlte Angelika Haack sich nach langer Zeit endlich wieder leicht. Da erfuhr sie vom Schatten auf ihrer Lunge. Und nur wenige Stunden später kam die Nachricht, dass ihr Enkel an Krebs erkrankt sei. Niklas, sechs Jahre alt, hatte keinen Oberarmbruch, wie zunächst vermutet wurde. Ein Tumor fraß an seinem Knochen. Angelika Haack funktionierte. Als langjährige Chirurgieschwester kannte sie die Ärzte, bewegte sich routiniert in der sterilen Welt der Versehrten und gab dem Kind Kraft.
Die Schnittmusterteile der BHs liegen auf dem Stoff wie kleine Inseln. Oberkörbchen,Unterkörbchen, Mittelstück. Die Frauen umfahren sie mit dem Rollschneider. Ein Rollschneider sieht aus wie ein Pizzaschneider. Danach werden die Tüllteile des Oberkörbchens links auf links gelegt und gesteppt. Mindestens 42 Arbeitsschritte folgen.
Anfängerinnen empfiehlt Phelomena Visang Spitze. Spitze verzeiht falsche Stiche. Die Stoffe sind in alle Richtungen dehnbar. Das ist komfortabel, birgt aber die Gefahr, an der Naht zu zerren wie das Leben an den Nerven. Jeden Morgen stand Angelika Haack um Viertel nach sechs auf und lief acht Kilometer durch den Wald, dann begleitete sie Niklas in den Operationssaal oder zur Chemotherapie, wechselte sich mit ihrer Tochter am Krankenbett des Kindes ab oder bereitete dem Enkel ein Frühstück. An einem Tag in der Woche arbeitete sie im Operationssaal. Sie wollte nie hören, dass sie stark sei. Es ist, wie es ist.
Hinter den sechs Nähmaschinen verschwinden für einen Tag sechs Probleme. Die halbstarken Söhne, die gerade die Zimmertür eintraten. Die Routine am Schreibtisch eines Inkassobüros. Das Kleinkind, das sich weigert, feste Nahrung zu sich zu nehmen. Der große Busen, für den die Wäscheindustrie nur Liebestöter übrig hat. Der kranke Enkel.
Die Größen variieren von 70 A bis 100 H.
Die Frauen, die nicht zum ersten Mal hier sind, erzählen den anderen Teilnehmerinnen, wie ihre Kreationen aus früheren Nähkursen ankamen. „Dafür, dass du den BH selbst genäht hast, ist er gar nicht so schlecht“, hatte Angelika Haacks Kegelfreundin zu ihr gesagt. Die stützende Gaze aus Stolz und Selbstrespekt entzieht sich dem flüchtigen Blick.
Mit 19 Jahren heiratete sie. Ihr Mann brachte die sechsjährige Tochter mit in die Ehe. Angelika Haack verzichtete auf eigene Kinder. Sie fürchtete, die Tochter könnte sich zurückgesetzt fühlen. Auch ihre drei Enkelsöhne liebt sie sehr. Die Väter sind abwesend. Angelika Haack hielt die Hand ihrer Tochter während der Geburten, begleitet sie heute zu Schulterminen der Jungen. Der älteste hat das Tourette-Syndrom.
Die Miederstoffe, mit denen sie arbeiten, heißen Power-Net oder Charmeuse. Push-up, Spitze, Entlastungsträger – das Vokabular im DessousNähkurs klingt tröstlich.
Angelika steht an, um Phelomena Visang um Rat zu fragen. Der halbfertige BH hängt am noch überlangen gelben Satinträger um den Hals. Die Cups lässt sie aus Spaß auf Hüfthöhe baumeln. „So viel zum Thema Hängebusen“, sagt eine. Alle lachen. Alle sind über 40. Alle wissen: Was einmal stand, sackt plötzlich ab, was einen Ort hatte, hat mittlerweile einen anderen. Immer ist er weiter unten.
In der Nähpause am Mittag essen die Frauen halbe Grillhähnchen im Restaurant eines Supermarktes. Sie ziehen die fettige Haut ab und legen das magere Fleisch frei.
Angelika Haacks Hautärztin sagte, dass sie sich mit dem Abnehmen zu sehr unter Druck setze. Sie meinte, dass wäre die Ursache für ihre Gürtelrose. Angelika glaubt das nicht. Montags, mittwochs und freitags isst sie ein Stück Schokolade.
Der Kurs kostet 50 Euro, das Nähpaket mit Schnitt und Stoff und Zutaten ungefähr 20 Euro. Phelomena Visang ändert jeden Schnitt. Sie zeichnet und schneidet, sperrt und kneift. Ob schmal oder üppig, keine der sechs Frauen hat Durchschnittsmaß. Obwohl in der Wahl der Spitzen und Litzen nach Einzigartigkeit strebend, erschienen ihnen ihre körperlichen Abweichungen bisher alles andere als erfreulich. Der falsche BH scheuert am Selbstbewusstsein wie ein grob vernähter Faden auf der Haut. „Deshalb nehmen die Frauen in den Dessous-Nähkursen die Sache selbst in die Hand und ändern, was nicht passt“, sagt Bärbel Dückers-Thielen. Die Textilingenieurin entwirft die Schnitte. Vor sechs Jahren konnte man an ihrem Stand auf einer Hobbymesse Hemd und Höschen nähen. Es bildeten sich Schlangen. Heute vertreibt sie Schnitte, Stoffe und Nähpakete über ihren Online- Versand Sewy. Am besten laufen große Größen.
Der Tritt auf das Pedal der Nähmaschine ähnelt dem beim Gasgeben.
Angelika trägt Spitze, um nicht stumpf zu werden in der Schleife der Tage. Mit der Gewissheit des geheimen Luxus, dem Gefühl, etwas Schönes an sich zu haben, nähern sich die Schulterblätter, hebt sich der Brustkorb, streckt sich das Rückgrat. „Ich könnte auch ohne Dessous-Nähkurs“, sagt sie und hat sich für den nächsten angemeldet. Sie schwankt noch zwischen den Nähpaketen Maria 1 und Maria 2.
Niklas hat seine letzte Chemotherapie hinter sich. Die Werte sind gut. Der Schatten auf Angelikas Lunge war harmlos.