Lieber Kleve als Cannes

Goldene Palme? Einen Oscar? Och nö. Ariane Raspe spielt auf Bühnen der Provinz und auch mal im Pfarrsaal oder im Hotel. Sie tourt als Kobold Pumuckl durch Deutschland und übt auf der Parkbank den Text von “Tartuffe”. Eine Geschichte von Glück und Zufriedenheit – jenseits des großen Rummels um Stars und Sternchen

 

Sie war Schnappi, das Krokodil, als sie merkte, wie Ruhm sich anfühlt. Zweihundert Kinder rannten auf sie zu in diesem Möbelcenter. Alle fassten sie an. Um sie herum drängte Schaumstoff. Sie sah kaum etwas durch das winzige Guckloch. Sie schwitzte, beugte sich unter dem Gewicht. Die Kinder griffen nicht nach ihr. Sie griffen nach Schnappi. Später fuhr sie unerkannt mit der S-Bahn nach Hause. Und war froh darüber.

Ariane Raspe ist Schauspielerin. Sie wirkt wie 23, ist laut Lebenslauf aber 28 Jahre alt. „Stimmt gar nicht“, sagt sie. „Ich bin fünf Jahre älter.“ Eine Frau wie Apfelsaft. Es ist sieben Uhr morgens. In der Küche duftet es nach aufgebackenen Brötchen. Sie bereitet den Proviant für den Tag. Im Flur stehen ein Kosmetikkoffer und ein Pappkarton.

Sie erzählt von Rollen, die andere verschweigen würden. Bei Fernsehrichterin Barbara Salesch prügelten sich ein Soldat und ein Künstler um sie. Schließlich walzte der Soldat die Skulpturen des Künstlers mit einem Panzer nieder. Sie hatte die Folge auf ihrem Demoband. Ihre Agentin riet ihr, sie zu löschen. Einmal Salesch, und sie könnte sich dreimal Goethe, Dürrenmatt oder Borchert leisten. Das erzählt Ariane Raspe nicht. Lieber erzählt sie von Absagen und Zumutungen. Ihre Erfolge sind zu persönlich. Sie könnten verblassen unter den grellen Strahlern der Superlative. Sie spielt auf kleinen Bühnen in Kleve oder Lichtenau. Sie spielt auch in der Turnhalle der Grundschule in Hürth, im Hotel in Höxter oder im Pfarrsaal von Brilon. In Brilon, im Sauerland, wuchs sie auf.

Sie packt Karton samt Koffer und trägt sie zum Auto mit der geklebten Stoßstange. Auf dem Fahrersitz liegt ein Kissen mit einem Hundebild, auf dem Beifahrersitz eines mit dem Bild einer Katze. Es sind die Reisekissen ihrer Kindheit. Ihre Mutter legte sie in das Auto. Damit es nicht zu kalt ist im Winter, nicht zu heiß im Sommer.

Ihre Mutter wäre gern Tänzerin geworden und wurde Ballettlehrerin. Ariane Raspe debütierte im Kindergarten als Geißenmutter. Ein Bruder ist Steuerberater in der Kanzlei des Vaters, der andere Orthopädieschuhmachermeister. Es geht um Bodenhaftung bei den Raspes. Nach dem Abitur machte Ariane eine Ausbildung zur Rechtsanwalts- und Notarfachangestellten und bewarb sich an Schauspielschulen.

Die staatlichen Schulen lehnten sie ab. Sie lernte an einer privaten Schule in Köln. Dort meinten die Lehrer, zu festgelegt sei ihr Typ. „Du bist zu schüchtern. Du wirst es später schwer haben. Du musst mehr aus dir machen.“ Sie trauten ihr nichts zu. Die Agentin empfahl der dunkelblonden Frau hellblonde Strähnchen. „Was soll ich mir die Haare färben, solange ich noch eine Haarfarbe habe?“, dachte sie und machte es trotzdem. Beim Casting zu der Pro7-Serie „Stromberg“ hieß es: „Diese Strähnchen, Sie konkurrieren mit der Hauptdarstellerin. Färben Sie sich die Haare dunkler!“. „Konkurrieren? Als Kleindarstellerin ohne Text?“, dachte sie und machte es trotzdem. Schon die zweite Staffel spielte sie ungefärbt. Niemand bemerkte es.

Raspe erzählt von kleinen Rollen und duckt sich hinter ihnen. Sie schützt sich vor dem Würgegriff der hohen Erwartung. Es hat Vorteile, unterschätzt zu werden. Als Kind kam sie billiger ins Schwimmbad. Heute kann sie unbehelligt arbeiten. Sie trägt den Kilometerstand in das Fahrtenbuch ein und startet den Motor. Sie fährt auf die Autobahn, Richtung Hagen. Ihr Lackledermantel schmatzt, wenn sie die Gänge wechselt. Sie wechselt sie oft im stotternden Berufsverkehr. Auf der Strecke stand sie einmal mit Kollegen im Stau. Sie brauchten für ein Theaterstück eine Radkappe als Requisite. Am Straßenrand lag eine. Raspe sprang aus dem Auto und packte sie. Seitdem fällt ihr auf, wie oft Radkappen am Straßenrand liegen.

Auch der Stillstand birgt Möglichkeiten. Es muss nicht leicht sein, das Vorankommen. Hauptsache, das Publikum geht mit. Nach der Vorstellung auf der Hallig Langeneß fragte der Inselkaufmann, ob sie nicht für ein Jahr als Au-pair-Mädchen bleiben wolle. Im letzten Jahr tourte sie als Kobold Pumuckl durch Deutschland. Das Stück von Wrobbel, dem Wichtel, schrieb sie selbst. Der Elf Puck aus Shakespeares „Sommernachtstraum“ ist Raspes Lieblingsrolle. Der Schalk richtet sich ein in ihrem Leben.

Der Film, in dem sie die Grundschullehrerin Petra spielte, hieß zufällig „Fortbildung ELF“. Über dem Drehort lärmten die Flugzeuge des Köln-Bonner Flughafens. Raspe sprach in den Lärmpausen vier Sätze. Sie sprach sie gratis. Sie wollte die Szene für ihr Demoband nutzen. Auf dem Rückweg fuhr sie an dem Studio vorbei, in dem Günther Jauchdas Quiz „Wer wird Millionär“ moderiert. Ariane Raspe verdient mit ihrer Arbeit so viel, dass sie bescheiden davon lebt. Seit einem halben Jahr teilt sie sich mit ihrem Freund eine Zweizimmerwohnung in Essen Holsterhausen. Die Umzugskartons sind noch nicht ausgepackt. Als sie das Flurlicht einschalten will, wird es im Bad hell. Sie ist selten da, lebt auf Tournee oder in ihren Drehbüchern. Eine Familie kann sie bisher nicht ernähren. Ihr Freund arbeitet als Altenpfleger und Dark-Metal-Schlagzeuger.

Der Blinker tickt. Ausfahrt Hagen-Hohenlimburg. Im Industriegebiet eine Werbung für rostfreie Federstähle. Raspe trifft vor der Stadtbibliothek Karl-Wilhelm Stadtler. Er arbeitet ehrenamtlich in Fördervereinen, damit die Menschen in Hohenlimburg Bücher und Theater finden. Die Stadtbibliothek sollte längst geschlossen sein. Stadtler hat Ariane Raspe engagiert. Sie wird Kindergartengruppen ihr Stück „Wrobbel, der Wichtel“ vorführen.

Über den Büros der Thyssen-Krupp-Tochter Hoesch liegt der Panoramasaal der Stadtbibliothek. Neonlicht, Auslegeware, Stapelstuhl. Mehrzweckraum statt Bühnentraum. Zwei Stellwände ersetzen Raspe den Vorhang. Sie stellt den Karton dahinter ab und nimmt die alte Pelzweste ihrer Mutter heraus. Die Pelzweste war das Kostüm des Puck, jetzt ist sie das Kostüm des Wichtels Wrobbel. In einer Abstellkammer zieht sie die Weste über einen grünen Rollkragenpulli und eine grüne Strumpfhose.

Im Toilettenraum steckt sie die Haare zurück und klebt sich spitze Wichtelohren an. Eine Reinigungskraft putzt die Toiletten. Neben dem Kosmetikkoffer liegt der Make-up-Schwamm im Stoffbeutel. „Marktfrisch und discountergünstig“ steht darauf. Die Reinigungskraft leert die Mülleimer. Puder auf Stirn, Nase, Kinn. Der Putzlappen quietscht über die Waschbecken. Ein paar Haarsträhnen vor die Wichtelohrkante, ein paar hinter die Ohren. Der Zipfel der Mütze aus grünem Filz legt sich an den Kopf. Herr Stadtler schlägt vor, die Gardinen vor die Panoramafenster zu ziehen. „Wenn die Kinder nach draußen schauen und nicht zu mir, dann bin ich nicht gut genug“, sagt sie.

Auf Amrum konnte sie von der Bühne aus über das Strandgras hinweg das Meer sehen. Beim Berliner Kindertheater pfiff Raspe einmal vor sich hin. Dabei darf man beim Theater gar nicht pfeifen. Das bringt Unglück. Alter Aberglaube. Der Regisseur meinte: „Eine neue Ilse Werner wäre nicht übel.“ – „Stimmt“, sagte sie, „eine neue Ilse Werner, die gab es noch nicht.“ Eine Ariane Raspe gab es auch noch nicht. Aber darauf kommt niemand, am wenigsten sie selbst. Sie spielt Ophelia oder Gretchen. Sich selbst spielt sie nicht. An der Rolle Raspe hat sie kein Interesse. Es soll noch jemand da sein, der echt ist, wenn Gretchen wieder am Kleiderbügel hängt.

Nur einmal sagt sie: „Na klar, Wiener Burgtheater oder Berliner Ensemble, das wäre schon toll.“ Ein Satz wie ein Kostüm. Sie ahnt, dass das nicht ihr Weg ist. Nicht jeder kann Burgtheater. Die Talente der Schauspieler sind so vielfältig wie die Vorlieben des Publikums. Nicht jeder will Burgtheater sehen.

Wer will ein Baum sein?“, fragt Raspe die Kinder. „Ich, ich, ich“, rufen alle. Sie bittet fünf Kinder nach vorn. „Keine Sorge, ihr kommt alle noch dran. Versprochen.“ „Lieber nicht versprechen“, flüstert eine Erzieherin, als hätte sie die Erfahrung gemacht, dass im Leben nur selten alle drankommen. Die Kinder streifen sich grüne Capes als Baumkronen über. Der Wichtel erledigt verschiedene Aufgaben, um sein Märchenbuch vom mächtigen Zauberer zurückzubekommen. Die Aufgaben machen dem Wichtel viel Freude, denn sie haben mit Märchen zu tun. Er lässt sich nicht entmutigen, auch wenn es mal düster ist im Märchenwald. Wichtels Vater kann ihm nicht helfen. Er hat nie Zeit. „Hast du keine Mama?“, fragt ein Kind. „Such dir doch einen Freund“, rät ein anderes. Raspe spielt ihre Geschichte zweimal an diesem Vormittag. Zwischen den Vorstellungen lutscht sie ein Hustenbonbon. Sie verdient 630 Euro. Am Ende tanzt und singt sie mit den Kindern. Am Ende kommen alle dran. Wenigstens ein bisschen.

Die Rolle neben Mike Krüger in „Krügers Woche“ musste Ariane Raspe ablehnen. Sie hatte bereits die Schlossspiele in Hohenlimburg zugesagt und stand zu ihrem Wort. Ihre Agentin war außer sich. Im letzten Jahr trat Raspe mit Helge Schneider beim RTL-Adventskalender auf. Sie war der Esel. „Es war immer mein Traum, mit Ihnen zu arbeiten“, sagte sie auf der After-Show-Party. Jetzt probt sie ihr eigenes Comedy-Programm. Raspe teilt den großen Traum vom Erfolg in viele kleine. Damit es Ersatz gibt, wenn Träume platzen. Damit es reicht für ein Leben. Ihr Chansonprogramm heißt „Mit 70 hat man noch Träume“.

„Wer es mit dreißig nicht geschafft hat, aus dem wird nichts mehr“, sagt ihre Agentin. „Dann habe ich ja noch zwei Jahre“, sagt die Dreiunddreißigjährige, die angibt, sie wäre achtundzwanzig, weil sie wirkt wie dreiundzwanzig. Auf ihrem Küchenregal steht ein pinkfarbener Küchenwecker. Er hat die Form eines Glücksschweins.