Von jetzt an pflegeleicht

Wer alt wird, muss sich nicht nur von Menschen verabschieden, sondern auch von Kleidern, die an schöne Momente erinnern. Ein Besuch bei Herrn Klausmann im Seniorenheim.

 

“Sie erlauben, dass ich mir die Schuhe anziehe? Sonst komme ich mir halb vor.” Ernst Klausmann, 82 Jahre alt, die eine Hälfte der Eheleute Klausmann, ist gerade aufgewacht.
Die weißen Haare sind sauber gescheitelt. Er trägt ein dunkelblaues Polohemd mit Reißverschluss und eine hellgraue Hose mit Gummibund in der Taille. Im Zimmer riecht es nach Rheumalotion. Die sonnengelbe Gardine ist halb zugezogen.

Ernst Klausmann, linksseitig gelähmt, lebt mit seiner Frau Margarethe im Pilgerheim Weltersbach, einem Seniorendorf in der Nähe von Remscheid. Auf den Wiesen blühen Kamille und Mohn. Kaffeelöffel klingen auf den Untertassen einer Trauergesellschaft. “Es ist ein schöner Ort”, sagt Klausmann, “aber es zieht.”

In seinem Zimmer stapeln sich Kartons mit Kleidern zu Wällen. Auf dem Tisch türmen sich gefaltete Hosen. In den Ecken, über der Stuhllehne, überall Kleider.

Vor sieben Jahren zogen die Eheleute Klausmann ins Heim. Schlaganfälle zwangen sie auf diesen Weg. Fünfzehn Jahre pflegte Ernst Klausmann seine Frau zu Hause, dann verließ auch ihn die Kraft. „Es ist eine Umstellung“, sagt Ernst Klausmann. Ein Satz im Präsens. Seit sieben Jahren.

Margarethe Klausmann sitzt allein im Gemeinschaftsraum und sieht fern. „Ich kann nicht mehr sprechen“, sagt sie und zeigt auf ihre Lippen. Dann zieht sie sich wieder zurück in ihr Schweigen. An ihrer Gehhilfe hängt ein Nadelkissen ohne Nadeln. Sie schaut zum Fernseher, auch als das Bild plötzlich gestört ist und auf der Mattscheibe statt des jungen Peter Kraus nur noch Margarethe Klausmann zu sehen ist. Im selbst gestrickten Pullover. Fliederfarbene Baumwolle. Ein Lochmuster, so fein wie Klöppelspitze. Seit dem vierten Schlaganfall kann sie nicht mehr stricken. Seit der Augenoperation nicht mehr weinen.

Um den Hals liegt ungebunden ein pinkfarbenes Tuch. „Ich habe ihr zwanzig Tücher geschenkt. In verschiedenen Farben. Die kann sie sich noch allein umlegen“, sagt ihr Mann. Ernst Klausmann prüft die Mode auf ihren Nutzen. Nach dem Krieg trug er die Anzüge der Sieger. Militärsachen der Amerikaner und Briten, auf dem Schwarzmarkt getauscht. Sobald er das erste Geld verdiente, kaufte er seiner Verlobten, dem zierlichen Landmädchen in Bauernkittel und Selbstgestricktem, elegante Kleider in der Stadt. Auf dem Verlobungsbild schaut sie auf den Boden, er in die Welt. In seiner Hand eine Zigarette.

Draußen heult eine Kreissäge. Klausmann zuckt zusammen. Das Geräusch erinnert ihn an den Krieg. Woran genau? „Ja, so ist es jedenfalls“, sagt Ernst Klausmann und schaut auf die aufgestellten Härchen seiner Unterarme. Die Vergangenheit ist aufdringlich, wenn die Gegenwart nicht mehr genug zu bieten hat. Die Kreissäge heult oft. Das Seniorenheim
wird erweitert. Vierzig weitere Plätze bekommt das Haus.

Es gibt einen Sohn und eine Tochter, einen Enkelsohn und ein Urenkelkind, über dessen Geschlecht sich die Eheleute Klausmann nicht einigen können. „Es ist ein Junge“, sagt Frau Klausmann. „Es ist ein Mädchen“, sagt Herr Klausmann. Das Kind hat seine Holzente vergessen. Den Namen der Ente kennen sie. Trullala. Sie steht unten im Kleiderschrank von Herrn Klausmann.
Oben im Schrank liegt eine alte Puppe. So sah Klausmanns Tochter als Vierjährige aus. Die Puppe trägt die Wolljacke, die Frau Klausmann der Tochter gehäkelt hatte. Die Kinder sind selten da. Sie haben viel zu tun. Ernst Klausmann versucht zu verstehen. An der Kleiderstange hängen ein Mohairmantel und vier Anzüge. Ernst Klausmann streicht über die langen Fasern des Mantels. „Wenn es regnet, der Regen perlt einfach ab“, sagt er so, als würde er noch im Regen spazieren. Er ist ein Naturmensch. Besonders liebt er es, im Wald Pilze zu sammeln.

Er wendet den Seidenanzug. „Schauen Sie mal, die Innentaschen, feinste Verarbeitung.“ Klausmann kann den Anzug nicht tragen. Sein linkes Schultergelenk ist entzündet. Außerdem müsste ihn dann die Schwester auf die Toilette begleiten wegen des Knopfes am Hosenbund. Das möchte er nicht. Deshalb trägt er die Hosen mit Gummibund. Kurzgröße 25, also Größe 50 mit kurzen Beinen. Auch zu Weihnachten und beim Sommerfest.

Allerdings, zu seinem Gewerkschaftsjubiläum hätte er einen Anzug getragen. Fünfzig Jahre Mitgliedschaft. Er hatte mit einer Einladung gerechnet, einer kleinen Feierstunde. Aber die Leute von der Gewerkschaft wussten nicht, dass er nun im Seniorenheim lebt. „Sie dachten, ich sei tot“, sagt er. Ein Missverständnis. An das Revers des Seidenanzugs steckt er die rote Nadel vom 25-jährigen Jubiläum.

Vier Anzüge und Hemden, originalverpackt. Man weiß ja nie. Als kämen mit den Kleidern auch die Gelegenheiten zurück in sein Leben. Ein Schrank voller Hoffnung, dicht gepackt. Seine Schatzkiste. Darauf liegt ein Ikeakatalog. Klausmann wünscht sich mehr Stauraum für seinen Besitz. Für die Kleider, die sein Leben illustrieren. In dem wachsenden Regal aus gestapelten Kartons liegen Fleecepullover, maschinenwaschbar, die Jacke mit Klettverschluss, Schlupfhosen. Bequemes für das Ringen mit der wachsenden Abhängigkeit. In jedem Teil ein Wäscheaufkleber. Darauf steht „Eheleute Klausmann“.

Ernst Klausmann landete nach dem Krieg mit nichts als einer gefundenen Bahnwärterkluft am Leib in Deutschland. Vom Hilfsarbeiter ohne Ausbildung brachte er es zum Meister in der Textilindustrie. Am Wochenende schraubte er Verschlüsse in der Sprudelfabrik. Sein Fleiß brachte Prämien. Er kaufte ein. Für ihn gehört zum Sein auch das Haben. Als er in das Heim zog, sollte er bis auf das Nötigste alles zurücklassen. Er nahm so viel mit, wie er konnte.

An der Schranktür hängen vier Strickjacken aus dem Allgäu. Die Familie reiste gern nach Hindelang. Die Bayern gefallen Ernst Klausmann. Sie sagen immer: „Es könnte schlimmer sein.“ Er traut sich nicht, die Strickjacken zu tragen. In der Großwäscherei des Heimes könnte die reine Schurwolle einlaufen. Also schaut er die Strickjacken an wie alte Urlaubsfotos und sagt: „Wir hatten auch schöne Zeiten.“

Frau Klausmann ist rechtsseitig gelähmt. Sie kann die linke Hand noch bewegen, er die rechte. Sie könnten Hand in Hand gehen, wenn ihre Wege dieselben wären. Aber Herr Klausmann schiebt nachts durch die Flure, als wäre er wie damals auf der Flucht. Während seine Frau tagsüber im Gemeinschaftsraum sitzt, schläft er.

Klausmanns Komplizin im Kampf um die kleinen Freiheiten ist Sabine Schönhammer. Sechsmal im Jahr fährt sie im Modemobil vor und bringt Kleider. Elastische für die, die sich nur noch mit Mühe bewegen können, Pflegeleichte für die, die selbst Pflege brauchen. In Pink für Frauen, deren Tage nicht immer beige sein sollen. In Beige, weil Beige so beliebt und so weit weg von Schwarz ist. In Schwarz, weil Schwarz die Trauer trägt. Frau Schönhammer kommt für alle, die noch allein einkaufen wollen.

Ernst Klausmann blättert durch die Hosen an der einzigen Kleiderstange für Herren. Es gibt ja kaum noch Männer in seinem Alter. Kurzentschlossen kauft er zwei Schlupfhosen und einen Pullover. „Ich bin resolut im Denken und im Handeln.“

Er kaufte auch schon Damenhosen für sich. Neutrale Modelle. Ist die Hose zu lang, zieht er sich elastische Metallbänder über die Waden und rafft die Hose hoch. Das Modemobil kürzt auch, aber er will sich selbst zu helfen wissen.

„Wäre ich noch einmal jung, würde ich Abenteurer“, sagt Ernst Klausmann. Über den Griffen seines Rollators hängt eine Weste, sandfarben, aus grobem Kattun mit aufgesetzten, geräumigen Taschen auf jeder Seite. Eine Abenteurerweste.