Schönheit am Wegesrand

Die Hamburger Designerin Tonja Zeller zeigt ihre Kleider nicht auf Modemessen, denn vor ihrem Laden müssen sowieso alle warten und gucken. Eine Geschichte über das Glück geschenkter Zeit.

 

Vor dem Haus Elbchaussee Nummer 18 in Hamburg steht eine Fußgängerampel. Nachmittags an Werktagen staut die Ampel den Verkehr bis vor den Laden der Designerin Tonja Zeller, Elbchaussee 2, das erste Haus stadtauswärts, nebenan die Gaststätte „Zum Seeteufel“. Zellers Kundinnen kommen aus dem Stau. Fast jede Frau, die den Laden betritt, sagt: „Ich habe Ihre Kleider vom Auto aus gesehen.“

Laufkundschaft hat Zeller kaum. Eine Frau aus der Nachbarschaft betrat einmal den Laden und sagte, wie sehr ihr das Kleid im Schaufenster gefalle. Sie konnte sich dieses Kleid nicht kaufen. Es war zu teuer, aber sie kam oft vorbei und freute sich daran. Sie kam über Wochen. Das Kleid verschwand nicht. Es schien, als wartete es auf die Frau. Sie probierte schließlich eine Hose. Hosen kosten ungefähr die Hälfte. Nun spart sie.

An ihrem Anfang in Hamburg-Ottensen ist die Elbchaussee mehr Enge denn Chaussee. Der Lärm der Motoren schallt so laut in der Häuserschlucht, dass Zeller sich nicht daran erinnern kann, von hier aus je die Nebelhörner der Elbkähne gehört zu haben. Manchmal, wenn Zeller aus dem Schaufenster und über den Stau hinweg auf die gegenüberliegende Straßenseite blickt, sieht sie durch den Spalt zwischen zwei Häusern die Kommandobrücke eines Schiffes vorbeiziehen.

Viele der Frauen, die sich stadtauswärts stauen, sind auf dem Weg in die wohlhabenden Elbvororte. Eingekeilt zwischen Stoßstangen, sehen manche von ihnen in dem Laden ohne Protz und Pose einen Weg, wenigstens dem Gedränge der Moden zu entkommen.

Zeller hetzt nicht mit tagesfrischen Kleidern und Parolen der Dringlichkeit. Auf dem Ladenfenster zur Elbchaussee steht nicht einmal mehr ihr Name, seitdem sie einen Sonnenschutz auf die Scheibe zog, um die Kleider vor dem Ausbleichen zu schützen. Sucht man Tonja Zeller im Internet, erscheinen eine Seite, die sie schon lange nicht mehr pflegt, und ein paar alte Zeitungsartikel.

Sie öffnet den Laden nur dreimal in der Woche am Nachmittag, samstags am Vormittag. Ein Nachbar, der Tonja Zeller zum ersten Mal auffiel, als er mit seinen Kindern eine Katze an der Leine ausführte, sagte: „Du brauchst zumindest mehr Scheinwerfer. Die Leute müssen vom Stau aus sehen, wann der Laden geöffnet ist.“ Ein paar Tage später brachte er Strahler vorbei.

Wenn keine Kundin im Laden steht, arbeitet Zeller versteckt hinter einer Welle aus Rigips im Atelier. Links an der weißen Wand eine Kleiderstange. Am Schaufenster zur Seitenstraße ein kleiner Tisch und zwei Sessel aus Fiberglas. Im Interview setzt Zeller sich zunächst auf die Lehne des Sessels, als wolle sie sich nicht zu schnell niederlassen zwischen den Worten. Zeller misstraut der Eile. Antworten und Ideen nähert sie sich mit Bedacht.

Draußen auf dem Bürgersteig winken Passanten ihr zu. Ein Nachbar steckt kurz den Kopf zum Gruß durch die Tür. Nachmittags machen sich Läufer und Spaziergänger aus dem Viertel auf in Richtung Hafenkante. Sie drücken die Taste der Fußgängerampel und ahnen nicht, dass sie Tonja Zeller als Trupp absichtsloser Außendienstler unterstützen. Vor der Ampel eine Schlange Wartender.

Wer im Stau die Geduld bewahrt, in Zellers Schaufenster die Modelle studiert, einen Parkplatz sucht, ihn nicht findet, sich an einem anderen Tag erneut bemüht und schließlich den Laden betritt, sieht das Warten nicht als Zumutung, sondern als Möglichkeit.

Der Laden ist so klein wie vier ausgebreitete Kurzmäntel. Es hat nur eine Kundin Platz, wenn sie sich mit ein wenig Abstand im Spiegel neben der Ladentür betrachten will. Es gibt auch nur eine Umkleidekabine.

Als eine Frau zum ersten Mal den Laden betrat, bediente Zeller gerade eine andere Kundin. Die Frau setzte sich vor das Schaufenster, wartete und betrachtete den Stau wie ein Defilee.
In den dunklen Monaten leuchten die Scheinwerfer der Wagen wie Lampions einer Lichterkette, die Gesichter der Gestauten hochdruckrot vom Bremslicht vorderer Wagen. Schließlich probierte die Frau ein Kleid, das nicht passte. Tonja Zeller nahm ihre Maße und ließ das Kleid bei ihrer Schneiderin in München nähen.

Drei Wochen später holte die Frau das Kleid ab, sah ein anderes Modell auf der Puppe und sagte: „Das hätte ich gern in Wolle, Farbe Camel.“ Sie probierte diesen Schnitt nicht einmal an. „Sie haben doch jetzt meine Maße“, sagte sie. Zeller wundert sich selbst über das große Vertrauen ihrer Kunden. Als sie sich verabschiedete, sagte die Frau noch: „Es war mir eine Freude.“

Wenn ein Kleid nicht sitzt, nimmt Zeller Maß. Mittlerweile hängen nur noch Prototypen an der Kleiderstange. Sie könnte die Modelle auch in allen Größen anbieten, aber das wäre teuer, und was sollte es bringen? Körper sind einander nie gleich.

Für das Kleid mit der Welle über der Brust bedankte sich eine Kundin schriftlich. Das Modell ist besonders beliebt. Zeller überlegt, das Kleid für Blankenese zu sperren. Es soll sich dort nicht stauen.

Zu schwer fallender Wolle und Seide fällt Zeller immer etwas ein, zu Baumwolle nicht. „Ich kann nur Winter“, sagt sie.

Nach ihrem Modedesignstudium ließ die Hochschule Zeller nicht gehen, sondern bat sie, zu bleiben und zu lehren. Sie gewann internationale Modepreise, entwarf Kollektionen für Firmen und merkte, dass das Leben als Ausgezeichnete sie bedrängte. Erwartungen können nah kommen wie Boliden auf der Elbchaussee werktags um vier. Tonja Zeller scherte aus und mietete vom gesparten Preisgeld den kleinen Laden an der Straße. Dort nimmt sie auch bei ihrem Lebensentwurf genau Maß und lässt weg, was nicht passt: Hast und Sommer.

Wenn eine Stau-Frau Kleider probiert, passiert es, dass sie mit Socken zum Wollkleid länger als nötig im Laden steht und sich dem Publikum im Stau zeigt. Eine Kundin ließ ein Kleid in drei Farben nähen. Eine davon war Ampelrot. Eines Tages sah die Kundin von der Straße aus ihr rotes Kleid, das fertig neben dunklen Farben an der Kleiderstange strahlte. Sie hätte abbiegen, einen Parkplatz suchen und das Kleid probieren können, aber sie wollte, dass viele Leute auf das Kleid aufmerksam werden. So ließ sie das Kleid ein paar Tage lang hängen und probierte erst dann.

Die Verlegerin Gabriele Wachholtz lud Freundinnen und Zeller zum Spargelessen. Die Sonne schien. Man speiste mit Blick auf die Elbe. Zeller zeigte einige ihrer Modelle. Irgendwann stiegen von einem der Nachbargrundstücke Heißluftballons in die Luft. Sie zogen an Zeller vorbei und alle Blicke auf sich.

Nur manchmal überlegt Zeller, ob sie nicht doch einen Investor suchen, auf Modemessen ausstellen und Werbeanzeigen schalten sollte. Das Geschäft würde wachsen, sie selbst hätte vielleicht keine Zeit mehr dazu. Zeller fürchtet Blessuren. Der Modemarkt ist ungestüm.

Zellers Freund ist Schriftsteller. Sein Geld verdient er als Altenpflegehelfer bei einem ambulanten Pflegedienst. Eine Spanierin, die früher als Torera gearbeitet hatte, zeigte ihm einmal die Narben, die geblieben waren, nachdem ein Stier sie angegriffen hatte. Es waren Male von Reiz und Risiko. Man hat im Leben immer die Wahl.

Zellers Eltern, die Mutter Psychologin, der Vater ehemals Rektor einer Berufsschule, ließen ihr und ihren drei Geschwistern viel Raum. Zeller fand es als Kind oft schwer, den Weg immer allein finden zu müssen, aber nun ist sie geübt darin. Gerade traf Zeller eine Frau aus der Spargelrunde wieder. Die Frau sagte, dass ihr das Abendkleid nicht aus dem Kopf ginge, das Zeller vor vier Jahren in der Runde gezeigt hätte. Es gibt Ideen, die sich nicht erschöpfen.

Zeller und die Zeit sind Komplizen. Zeller reduziert jeden Entwurf so lange, bis sie sicher sein kann, sich mit ihm nie langweilen zu müssen. Die Zeit enttarnt Überflüssiges. Eine Jacke, die eine Stammkundin als neuen Entwurf lobte, war gar nicht neu. Die Kundin hatte sie schon oft gesehen. Die Zeit aber hatte ihren Blick verändert.

Zeller schwärmt von ihren Kundinnen. Sie sagt, es seien starke Frauen. Sie halten das Glück der Tonja Zeller aus, ihre Kühnheit, den Kreis der Gehetzten zu verlassen, indem sie sich auf das konzentriert, was sie am besten kann, in dem Tempo, das ihr liegt.

Für Stammkundin Wachholtz wagte Zeller sich dann allerdings doch in die Baumwolle. Gabriele Wachholtz fühlte sich bei der Anprobe noch etwas steif in dem Kleid. „Wissen Sie was“, sagt Zeller. „Das hat so keinen Zweck. Ich lasse Ihnen das Modell aus Wolle nähen.“ – „Wer macht denn so etwas?“, sagt Wachholtz und weiß noch nicht, ob sie die Großzügigkeit annehmen wird.

Andere Designer leisten sich Modenschauen. Tonja Zeller leistet es sich, ihre Kundinnen aus steifer Baumwolle zu retten. Es ist ihr eine Freude.