Auf zu neuen Ufern

Die Spitzenschwimmerin Sarah Poewe hatte auch Spitzenerwartungen an das Leben nach dem Sport. Aber dann verkaufte sie ihre Trainingssachen auf dem Flohmarkt. Die Geschichte einer Erleichterung

 

Kurz bevor die vierfache Olympiaschwimmerin Sarah Poewe sich an diesem Morgen aufmacht, die Kleider ihres Weltklasselebens auf dem Flohmarkt zu verkaufen, fällt ihre Balkontür aus der Angel. Kalte Luft weht in die Küche. Poewe steigt die Treppe vom dritten Stock in den Keller, holt die Beutel und Taschen mit Trainingssachen und friert.

Um halb sieben baut sie den Tisch unter der Wuppertaler Schwebebahn auf, montiert das Gestänge des Polyesterdaches und heftet das Poster von den Deutschen Kurzbahnmeisterschaften 2012 an den Stoff. Nach den Olympischen Spielen in London hatte Poewe ihre Schwimmkarriere beendet, aber der offizielle Abschied fand während der Kurzbahnmeisterschaften im November statt. Der Oberbürgermeister hielt eine Rede. Der Verein schenkte ihr ein Mountainbike. Berg statt Wasser. Poewe bedankte sich höflich.

Jetzt verteilt sie auf dem Tisch Funktionsshirts, Schwimmshorts, Trainingsgeräte, einen Rucksack und Stapel von Autogrammkarten mit ihren Siegen und Rekorden. Da liegt es, ihr altes Leben. Sie will es loswerden.

Sarah Poewe, 30, kommt aus Kapstadt. Sie schwamm los, als die Ehe ihrer Eltern zerbrach. Sie war noch ein Kind, zehn Jahre alt. Vier Jahre später schwamm sie in Südafrikas Nationalmannschaft. „Ich war schnell gut, als ich jung war“, sagt sie. Im Wasser fand sie Trost und Rausch. Ihr Trainer reiste mit ihr von Kontinent zu Kontinent. Mit ihm wuchs sie. Er nannte sie: Kleiner Frosch. Poewes Heimat roch nach Chlor und war gekachelt. Auf ihrer Hüfte ein Tattoo der olympischen Ringe, gestochen im Jahr 2000 in Sydney.

Die Menschen, die so früh über den Flohmarkt gehen, interessieren sich vor allem für das, was auf dem Boden liegt. Boden bedeutet besonders billig. Auf dem Boden vor Sarah Poewes Stand stehen ein Paar ungetragene weiße Turnschuhe, ein Paar getragene goldene Sneaker und eine Tasche aus Lederimitat.

“Die Turnschuhe sind getragen”, sagt eine Frau. “Sonst würde ein Aufkleber auf der Innensohle kleben”. Sie versucht, den Preis zu drücken. Poewe reagiert nicht. “Was kosten die goldenen Sneaker?” Fünfzehn Euro.

Eine Frau betrachtet den schwarzen Rucksack auf dem Tisch. Poewe bietet ihn für fünf Euro an. „Der Rucksack ist vom Deutschen Schwimmverband. Er war mit mir bei den Olympischen Spielen in London“, sagt sie. Die Frau sieht aus, als wüsste sie nicht, warum sie das interessieren sollte. Der Deutsche Schwimmverband scheint der Frau nichts zu bedeuten. “Möchten Sie wenigstens eine Autogrammkarte?”, fragt Poewe. “Brauche ich nicht”, sagt die Frau und geht. Poewe beißt in einen Butterkeks mit Schokolade.

Ihr ehemaliger Krafttrainer kommt mit seiner Frau an den Stand. Er blieb ein Freund, auf den sie sich verlassen kann. Er liebt Flohmärkte. Außerdem kommt er, um die Balkontür zu reparieren. Poewe drückt ihm den Wohnungsschlüssel in die Hand. Poewes Werkzeug steckt unter der Spüle in der Küche. An der Wand über der Spüle eine Karte mit dem Spruch: It´s never too late to be what you might have been.

„Ich bin Profischwimmerin“, sagt Poewe zu einer Frau, die Schwimmshorts betrachtet. Dabei ist sie längst etwas anderes. Sie weiß nur noch nicht genau, was. It´s never too late. Was könnte Sarah Poewe sein?

Die Frage stellte sich Poewe zum ersten Mal, als sie im Alter von achtzehn Jahren in Kapstadt die Schule abgeschlossen hatte. Die Wahl eines Studienfaches war für Poewe so, als müsste sie neben der großen Liebe Schwimmen noch mit einer kleinen flirten, die fürs Leben taugte. Sie wählte das Fach Kommunikation.

Sarah Poewe fand die Universität in Georgia, USA, ihren neuen Verein im Jahr 2002 im Geburtsland ihres Vaters, in Deutschland, sich selbst wieder irgendwo dazwischen im Wasser. Während ihre Kommilitonen in den Semesterferien Berufe probierten, schwamm Poewe internationale Wettkämpfe für Deutschland, die Olympischen Spiele in Athen, vier Jahre später die in Peking. Sie versagte in Peking, machte ihren Bachelor in Georgia und schwamm weiter.

Für zehn Euro kauft eine Frau das Kleid, das sie auf der Party zu ihrem Universitäts-Abschluss trug – schwarzer Baumwollpopeline, kurze Ärmel, knielang, Gürtel in der Taille.

Im Januar 2011 zog Poewe nach Wuppertal zu ihrem deutschen Verein. Die Olympischen Spiele in London würden ihre vierten und letzten sein. Vor ihrer Balkontür ratterte die Schwebebahn. In ihrem Kopf die Frage: Was dann?

Das Poster am Polyesterdach flattert. Sarah ist darauf abgebildet. Unter Wasser atmet sie aus. Luftblasen, Latexkappe, Schwimmbrille. Man kann Poewe nicht erkennen. Die Bademeisterin des Schwimmleistungszentrums tritt an den Stand. “Ich habe dich an deinem Muttermal auf der Wange erkannt”, sagt sie zu Poewe und zeigt auf das Poster. „Was machst du jetzt eigentlich?“, fragt die Bademeisterin. „Hast du Werbeverträge?“ „Nein, ich arbeite“, sagt Poewe.

Sie hatte sich bei dem ehemaligen Schwimmer beworben, der in London als Global Sports Marketing Manager eines großen Schwimmausstatters arbeitet, hatte außerdem mit dem gesprochen, der die elterliche Firma für Bauelemente führt, und mit dem, der Nahrungsergänzungsmittel für Sportler entwickelt. Poewe spricht Deutsch, Englisch und Afrikaans, vor allem aber die Sprache, die Spitzensportler verstehen. Eine neue Aufgabe fand sie nicht.

Als sie im Mai 2012 Europameisterin über 100 Meter Brust geworden war, bot ihr eine Wuppertaler Firma, die international Großveranstaltungen mit Kommunikationstechnik ausstattet und auch die Olympischen Spiele in London belieferte, ein Jahr als Trainee an. Poewe hoffte, weiter unterwegs sein zu können, von Wettbewerb zu Wettbewerb, von Kontinent zu Kontinent, und sagte zu. Mutter und Bruder in Kapstadt freuten sich. Auf Poewes linkem Schulterblatt, tätowiert, Luftblasen. Darin die Initialen von Mutter Lorraine, Bruder Jean Claude und Sarah.

Die Bademeisterin kauft zwei Funktionsshirts, eins in Rot, eins in Weiß, zehn Euro, das Stück, und nimmt ein Autogramm mit. Ein Windstoß greift unter das Poster und klappt es auf das Dach. Es liegt mit der bedruckten Seite auf dem Stoff. Zu sehen bleibt eine leere weiße Fläche. “Ich fange mit meinem neuen Leben bei Null an”, sagt Poewe, aber sie erinnert sich nicht mehr, wie das geht.

Ein Mann tritt an den Stand. Er erkennt Poewe. “Ich schwimme auch”, sagt er. “Aber nicht so erfolgreich. Nur bei den Masters.” Und dann: “Ist ja doch schade, dass es in London nicht mit einer Medaille geklappt hat.” Poewe sagt: “Ich bin persönliche Bestzeit geschwommen. Ich bin zufrieden”. Der Mann zuckt mit den Schultern. Er kauft nichts, hätte aber gern ein Autogramm.

“Was kosten die Shorts?”, fragt eine Frau. “6 Euro”, sagt Poewe. “4 Euro”, sagt die Frau. Poewe hat keine Lust zu diskutieren. “Nein”, sagt sie. “Mit Nein kann ich nichts anfangen”, sagt die Frau und bleibt stehen. Nur langsam lernt Poewe weniger zu wollen. Irgendwann reduziert sie ihre Erwartungen und den Preis für die Shorts. “Na, also”, sagt die Frau und zahlt. Die goldenen Sneaker kosten jetzt acht Euro.

Gegen Mittag duftet es von der Kneipe gegenüber nach Grillgut. Stunden sind vergangen. Seitdem Poewe im Büro arbeitet, hat der Tag Stunden, nicht Zehntelsekunden. Sie kauft sich eine Bratwurst. Danach trinkt sie eine Tasse Kaffee aus der Thermoskanne und isst einen Keks. An ihrem 29. Geburtstag im März 2012 gab es Erdbeertorte und Käsekuchen, aber Poewe durfte nicht kosten. Ihr Trainer sagte: “Im nächsten Jahr kannst du den Kopf in Sahnetorte tauchen, wenn du willst.” Die Gäste lachten. Poewe lachte nicht mit.

Gefällt ihr das neue Leben? “Ich hätte sonst keine Zeit, hier zu stehen,” sagt sie. Das ist keine Antwort auf die Frage. An ihrem Finger ein Ring mit den olympischen Ringen. Das Poster ist mittlerweile an den Seiten eingerissen.

Nach den Spielen in London verstaute Poewe ihre Medaillen im Keller und sortierte ihren Kleiderschrank. Die Trainingssachen räumte sie in Beutel und Taschen. Die Kleider für ihr neues Leben ließ sie hängen. Am Ende war der Schrank fast leer. In einer Packpause saß sie auf dem Sofa und starrte auf den Bildschirm ihres Computers. Der Fernseher lief ohne Ton. Auf der Innenseite ihres rechten Armes frisch tätowiert vier Sterne. Sydney, Athen, Peking, London. Die Wunde war noch nicht verheilt. Am Knauf der Heizung hingen Schwimmanzüge, die längst trocken waren.

An einem Montag im September 2012 machte sie sich auf den Weg zur Arbeit. Marketing, Personalabteilung, Order- und Projektmanagement. Im Februar 2013 reiste sie für zwei Wochen zur Skiweltmeisterschaft nach Schladming, Österreich. Berg statt Wasser. Sonst sitzt sie im Büro. Auf ihrem linken Fuß tätowiert: ein kleiner Frosch.

Das Fitness Travel Kit kauft eine Frau für zwei Euro, ein Mann die goldenen Sneaker für fünf Euro. Ein anderer prüft eine Jeans und ruft seine Frau, die schon zum nächsten Stand gegangen ist, aber die kommt nicht. “Das ist die Jeans einer Profischwimmerin. Erzählen Sie das Ihrer Frau”, sagt Poewe. “Das erzähle ich ihr lieber nicht. Sie hasst Schwimmen”, sagt der Mann und geht weiter. Eine Frau lässt ihren Blick über den Tisch schweifen. “Ich bin Sarah Poewe, Olympiaschwimmerin.” Die Frau sagt: “Das erzähle ich meinem Mann, der merkt sich Namen”. Es gibt Sätze, die schmerzen wie ein Muskelkrampf, aber Sarah Poewe weiß sich zu dehnen.

Am Nachmittag packt sie die Sachen ein, die sie nicht verkauft hat. Als sie geht, sagt sie: “Das hat Spaß gemacht. Das mache ich im nächsten Jahr wieder.” Über der Pulsschlagader ihres linken Handgelenks das Wort: Believe.