Frisch gestärkt

Die Kommune schwächelt, die Menschen ziehen weg aus Wuppertal. Die Kleider kommen wieder, aus Berlin, München, Hamburg. Den längsten Weg hatte ein Anzug aus Moskau.
Ilse Rahmann hat eine Reinigung für feine Garderobe. Liebe, Sorgfalt, Hingabe, Diskretion – das ist ihr Geschäftsmodell

 

Nach den großen Ferien liegt der Sommer bei Ilse Rahmann auf dem Tresen. Feiner Sand rieselt aus Seidenfalten mit Weißweinrand. Am Chiffonsaum bröseln Sprenkel von eingetrocknetem Schlick. Sonnenöl klebt auf Batist wie Farbe auf der Leinwand eines Seestücks. Die Kleider waren zwei Monate auf Sylt wie in jedem Jahr.

Auf der Straße vor dem Ladenfenster geht eine Frau, der ein Schneidezahn fehlt. Die Reinigung für feine Garderobe liegt im langen Tal der Wupper weit rechts in Oberbarmen. In der Nachbarschaft locken Wettbüro und Spielhalle mit ihren Glücksversprechen. Der Inneneinrichter und die Galerie haben vor Jahren aufgegeben. Im Hintergrund die Schwebebahn.

Ilse Rahmann nimmt die Kleider vom Tresen und geht durch ihr Ladenlokal, das in Gestaltung und Privatheit einem begehbaren Klei­derschrank ähnelt. Sie schiebt den Vorhang zur Seite. In der Werkstatt fauchen Bügeleisen. Die Dampfpuppe plustert sich auf wie eine stolze Person. Die Tür zum Hof steht offen. Im Hof lagerte früher ein Chemikalienhändler seine Kanister, Rahmann pflanzte eine Kirsche. Die Blütenblätter fallen im Mai wie Schnee.

Sie legt die schmutzige Urlaubsgarderobe zur Seite und geht zu dem Ständer, an dem zwei Cocktailkleider hängen, die sich auf dem Fest am Wochenende aus dem Weg gingen. Rahmann nimmt eines der beiden Kleider und betrachtet es. Das Kleid ist gereinigt, gebügelt, glatt. Ilse Rahmann ist es nicht glatt genug. Hinten am Beleg über dem rumpf­langen Reißverschluss ahnt sie die Andeutung einer Welle. Sie zieht an Anfang und Ende des Reißverschlusses. Ihre Mitarbeiterin hält das Bügeleisen davor. Das Eisen berührt die Seide nicht. Die feuchte Hitze dringt in die Fasern, die Festigkeit des Stoffes nimmt ab. Rahmann hält das Kleid gespannt, bis es abgekühlt ist. Über dem Bügelautomaten hängt ein vergilbtes Papierschild, handgeschrieben: „Bitte mit großer Ruhe und Liebe bügeln ­ nicht hudeln. Bitte. Danke.“ Das ist Rahmanns Geschäftsmodell.

In der Trommel der Reinigungsmaschine klüngeln zwölf Kilo Kleider, nach der Farbe sortiert. Später hängen sie in bunter Folge an der Stange. Es sind die Kleider von Stiftern, Tüftlern und Künstlern, von Werbern und Lehrern, von Forschern, Fabrikanten, Weltmarktführern. Die Klei­derstange in der „Reinigung für feine Garderobe Ilse Rahmann“ erzählt von den Möglichkeiten dieser Stadt.

Auf dem Regal steht Denkmit- ­Sprühstärke. Aber das Kleid aus Paris, das vorn am Rollständer hing, um dem Drapé Raum zu geben, erschien das nicht prominent auf der Internetseite eines Kunstmagazins? An einer Frau, die mit ihrer Familie samt Kunstsamm­lung von Wuppertal nach Berlin zog?

Ilse Rahmann schaut nach draußen auf die Bundesstraße 7, die sich wie ein Rückgrat durch die Stadt zieht und in diesem Teil des Tals Berliner Straße heißt. Als der Bürgersteig vor ihrem Laden neu gepflastert wur­de, bat sie die Arbeiter, auch ein paar Steine legen zu dürfen.

Dann blickt sie zu dem Kleid mit Drapé, zuckt mit den Schultern und schweigt. Ilse Rahmann nennt nie die Namen ihrer Kunden. Nur so viel gibt sie zu: Menschen ziehen weg aus Wuppertal, die Kleider kommen wieder. Aus Hamburg, Berlin, München. Den längsten Weg hatte der Anzug aus Moskau.

„Von nah, von fern manch Pilger kommt vorbei, an Leib und Seele nicht schadenfrei. Kehrt er im Ilsehause ein, so wird er bald gereinigt sein“, dichtete der Düsseldorfer Bildhauer Bert Gerresheim. An der Wand hängt die Zeichnung einer Freundin. Darauf ein Kleid aus Herzen auf dem Weg in die Reinigung. Mein Herz mach rein.

Ilse Rahmann eröffnete die Reinigung in der Berliner Straße nach einem privaten Strukturwandel im Jahr 1968. Sie war 26 Jahre alt. Vier Jahre zu­vor hatte sie ihre Zwillinge geboren und deren Vater verlassen. Ihr Bru­der sagte, als sie Zwillinge bekam: „Das ist mal wieder typisch. Andere Frauen bekommen ein Kind. Du bekommst Zwillinge.“ Ilse Rahmann liefert immer mehr als üblich.

Erst kamen die Kunden aus dem Tal, Laufkundschaft aus dem Viertel. Aber Rahmann nahm sich so viel Zeit für jedes einzelne Kleidungsstück, dass sie die Preise erhöhen musste. Die Qualität ihrer Arbeit sprach sich herum. Nach ungefähr zehn Jahren bremste die erste Limousine von den Höhen vor dem Geschäft. Heute vertrauen die Kunden Rahmann Mäntel für 3000 Euro an. Das Stammkleid kommt seit 20 Jahren.

„Die Kunden wissen, ich mach das schon. Es ist harte Arbeit. Jeden Tag. Es ist mit großer Mühe verbunden. Und wehe, Sie machen einen Feh­ler“, sagt sie, und ihr Gesicht schwärmt vom Leben.

Wenn sich jemand verirrt mit einer Hose vom Textilriesen, deren Reinigung teurer wäre als ihr Kauf, dann streicht Rahmann über den Stoff, wendet den Saum, spricht lange über die Prozesse der Sanierung und gibt dem Kunden die Möglichkeit zu sagen: „Vielen Dank. Das ist mir zu aufwändig.“ Zierrat, Gold und Pelz trennt sie vor der Reinigung ab. Perlenstickereien und Pailletten umnäht sie mit einem weißen Tuch, falls die Perlen sich in der Maschine lösen. Delikate Fälle landen bei ihr, Kleider, an denen andere Reinigungen scheiterten, Reitröcke mit dem Schweiß und den Stockflecken der Jahrzehnte, komplizierte Braut­kleider.

„Vom Verleih krieg ich immer die ganz Schrecklichen. Nur die Katastrophen“, sagt Rahmann. Nach der Reinigung hängt sie das geraffte Brautkleid mit vielen Lagen in ein Glied der Eisenkette, die von der Decke hängt, und kriecht mit dem Bügeleisen unter das Kleid wie unter den welken Kelch einer gefüllten Blüte. Schicht um Schicht hätschelt sie Taft, Tüll oder Triacetat. Irgendwann kriecht sie unter bauschender Pracht wieder hervor. Die Pflege eines solchen Kleides kostet 220 Euro. Damit sind die vielen Arbeitsstunden nicht berechnet.

Rahmanns Vater war Konditor. Ein Bruder Professor für freie Kunst, der andere Professor für Volkswirtschaftslehre und Finanzwissenschaft. Ilse Rahmann reinigt, bügelt, stärkt. Ihren Zwillingen sagte sie: „Man muss an irgendeiner Stelle besser sein als die anderen. Das kann irgendeine Stelle sein. Man kann ja nicht alles abdecken.“ Ist es im Sommer heiß, gibt sie die Kleider nicht heraus. Sie könnten schwitzen unter der Schutzfolie. Eine Kundin sagt: „Wenn sich um uns mal jemand so sorgen würde wie Sie um die Kleider.“ Ein Kunde verspricht, das Kleid im klimatisierten Wagen sofort hoch in die kühle Villa zu fahren. Ein anderer Kunde sagt, während Rahmann die Folie von der Rolle reißt, um die Hose zu verpacken: „Jetzt kommt sie wieder, die heilige Handlung.“ Als eine Dame ihre Bluse brachte mit Volants, Rüschen, Spitzen, zupften, zerrten, zärtelten Rahmann und ihre beiden Mitarbeiterinnen, bis eine gestärkte Wolke Weiß vorn hing. Die Kundin kam und fragte: „Können Sie mir das bittschön klein einpacken?“ Seitdem raunen die Büglerinnen: „Können Sie mir das bittschön klein einpacken?“, wenn Rahmann wieder Großes will und die Teile zum dritten Mal nachbehandelt, weil sie ihr nicht genügen.

Wenn sie der Anspruch ihrer Chefin erschöpft, sagen die Frauen: „Ist das wieder staubig hier.“ Dann wird Champagner getrunken. Ilse Rahmann ist nicht reich an Geld, konnte sich aber ihre Unabhängigkeit, Karten fürs Schauspielhaus und ab und zu Champagner für ihre Mitarbeiterinnen leisten. Die Einschüsse der Korken in den Styroporfliesen an der Werkstattdecke beschreiben die Wucht ihrer Tage.

An der Reinigungsmaschine klebt ein Gorilla, der bei Applaus tanzt und singt. An den Wänden Fotos von Töchtern, Enkeln, Brüdern und Freunden neben Briefen, Zeichnungen und Zeitungsausschnitten. Die Reinigung ist das Archiv von Ilse Rahmanns Leben. „Ich hab ja alles noch. Ich lege nicht so gern Sachen und Menschen ab.“ Gehen ihre Mitarbeiterinnen in den Urlaub, schreibt sie ihnen vorher lange Briefe voller Dank und Respekt.

Die Kalender in Rahmanns Werkstatt zeigen keine Einträge. Wer Rahmann sehen will, muss in die Reinigung kommen. Es kamen der fliegende Händler, der nichts hatte außer seiner Zuversicht und dem Stück Seife, das Rahmann ihm abkaufte, der Künstler, der sich auf das warme Bügelbrett legte, wenn sein Rücken schmerzte, die Straßenmusikanten, die inmitten von Crêpe de Chine, Georgette und Satin Volkslieder für ein paar Münzen spielten.

„Ökonomisch gesehen bin ich ein komischer Vogel“, sagt Ilse Rahmann. „Das macht die Nachfolge so schwierig. Viele denken nur an Gewinnmaximierung.“ Das Wort Gewinnmaximierung spuckt sie aus wie süßen Sekt.

Einmal musste sie die Einladung ihres Bruders absagen. Sie wollte dies noch detachieren und das korrigieren, und am folgenden Tag konnte sie auch nicht und nicht am übernächsten. Da sagte ihr Bruder: „Vergiss nicht, es ist nur eine Reinigung.“ Er hatte nicht verstanden, sie arbeitete weiter. Später nahm er seine Worte zurück. Die Kunden bringen Blumen, Pralinen und schöne Sätze. „Ein Glück, Sie sind noch da!“, rief eine Frau, die nach Jahren mit ihren Kleidern aus Duisburg kam. „Wo soll ich sonst sein?“, antwortete Ilse Rahmann. In Oberbarmen sehen die Kunden, dass die Welt kein Villenviertel ist.

Viele der Kleider, die Rahmann reinigt, kann man nicht in Wuppertal kaufen. Auf der Straße fährt ein Wagen mit Wuppertaler Kennzeichen und dem Aufkleber „Düsseldorf blüht auf“. Im Dezember blüht der Christstern im Fenster. Dann spielt sein Rot mit dem Tannengrün des gewirkten Kleides, das in jedem Jahr nach dem zweiten Advent hier auftaucht. Als die Scheibe des Ladens einmal gewechselt wurde, fror der Weihnachtsstern und verkümmerte. Rahmann päppelte ihn wieder auf. „Schlappmachen finde ich unattraktiv“, sagt sie.

Die Dame, die Chanel trägt und mit Ilse Rahmann am Tresen über Lyrik spricht, ist über 90 Jahre alt. Sie sagte: „Wenn es Sie nicht mehr gibt, möchte ich nicht mehr sein.“ Da ging Rahmann, 69 Jahre alt, nach hinten zu ihren Mitarbeiterinnen, 72 und 66 Jahre alt, und sagte: „Frauen, mindestens zehn Jahre müssen wir noch weitermachen.“